Marmolada di Rocca

Erstmals im Winter durch die Südwand.
Um es gleich vorwegzunehmen, nicht Otti Wiedmann und mir allein, sondern auch der Gipfelstürmer-Gemeinschaft, die am Unternehmen beteiligt war, ist der Erfolg der ersten Winterbegehung der Marmolada di Rocca Südwand zuzuschreiben.
Die Schwierigkeiten für uns begannen schon lange vor der Durchsteigung. Neben einer siebenköpfigen Hilfsmannschaft waren für das Unternehmen Kurt „Gaga“ Schoißwohl, Robert Troier, Otti Wiedmann und ich vorgesehen. Unserem „Gaga“ machten es berufliche und private Aspekte unmöglich, am Unternehmen teilzunehmen, während dem Robert immer wieder seine Meniskusverletzung einen Strich durch die Rechnung machte. Die Erfahrungen vom letztjährigen Versuch zwangen uns, diesmal mit einer richtigen Mannschaft zu starten. Abgesehen vom Klettertraining am Steinbruch und einigen kleineren Touren, war ein wichtiger Punkt unserer Vorbereitung der Erkundungsflug; Wandstudium, Beurteilung der Eis und Schneeverhältnisse, bis wir dann endlich am 4. März um 7 Uhr in Innsbruck abfahren konnten.
Bei strahlendem Sonnenschein trafen wir bei der Malga Ciapela ein. Langwieriges Sortieren und nach fast 2 Stunden Verteilen des Materials Skiaufstieg zum Rifugio Falier. Das letzte Mal ein Bett, wir genossen es (zu ausgiebig). 4.30 Uhr: Aufbruch. Auf der anderen Seite des Berges schleppten Richard Feuerstein und Ferry Theyermann, die nur an diesem Sonntag Zeit hatten, das schwere Stahlseilgerät für eine etwaige Hilfe im oberen Wandteil zur Gipfelhütte Marmolada di Rocca.
Robert verzichtete freiwillig
8.30 Uhr: Otti stieg ein. Es war noch alles ungewohnt, die vielen Zuschauer, das erdrückende Gefühl von 800 Metern Wand über unseren Köpfen, von der wir noch nicht viel wussten. Die erste Seillänge war Otti schon bekannt vom Vorjahr; gleich zu Beginn sechster Schwierigkeitsgrad.
Er kam gut hinauf zum ersten Stand. Und Robert Troier, den wir in letzter Minute noch zum Mitgehen überreden konnten, kletterte nach und die zweite Seillänge voraus. Es ging ihm, obwohl ohne Training und praktisch die erste schwierige Tour nach seiner Meniskusoperation, recht gut, bis zu der ersten kleinen Rechtsquerung an glatter Platte, wo es lange dauerte, bis es Robert gelang, mit Hilfe eines Spezialhakens den Quergang gangbar zu machen. Im Riss, auf einem Schneebalkon, machte er Stand. Hier bemerkten wir, welche Schwierigkeiten die Manöver mit den Kletterseilen einer Dreierseilschaft (die wir bis jetzt immer zu vermeiden versuchten), der Versorgungsschnur und gleichzeitig eines dritten 100m-Seiles zum eventuellen Auf- oder Absteigen mit Steigklemmen in sich bargen.
Bis die Rucksäcke aufgeseilt waren und wir alle drei beisammen standen, sind volle drei Stunden vergangen. Robert hatte die Lage sofort erkannt und sich entschlossen, zugunsten des einfacheren und schnelleren Weiterkommens einer Zweierseilschaft auf die Tour zu verzichten. Mit gemischten Gefühlen sah ich Robert nach, wie er mit den Steigbügeln am fixierten 100m-Seil abstieg. Für Otti und mich war also nur mehr ein halber Tag nach den ersten zwei Seillängen zur Verfügung. Etwa zwei Seillängen unter dem ersten Band wurde es dämmrig.
1. Biwak mit “getrennten Schlafzimmern”
Der Platz war so klein, dass wir „getrennte Schlafzimmer“ beziehen mussten. Und nun kam das für uns völlig Neue: Sprechfunk im Biwak. Welch moralische Stütze so was sein kann und welche Unterhaltung so ein kleines Gerät bietet, ist einfach unglaublich. Wir ließen uns von Robert, der die Wand vom Sommer her kannte, die nächsten Seillängen genau erklären und hörten sogar den Wetterbericht, den Ferry vom Gipfel herab durchgab. Morgen um sechs Uhr war die nächste Funksprechverbindung ausgemacht; heißer Tee sollte auch zum Frühstück gebraut werden.
Tatsächlich sahen wir um 5 Uhr, nach einer sternklaren Nacht, die Kameraden mit Stirnlampen von der Hütte zum Einstieg heraufkommen. Pünktlich um 6 Uhr war der Tee fertig. Ich konnte 200 Meter Versorgungsschnur einziehen – herrliches Frühstück mit Kuchen. Um 8.30 Uhr war Otti bei mir. Weiter. Zwei Sechser-Seillängen, senkrechter Fels vor uns. Wir waren bald wieder warm und kamen beim Klettern flott vorwärts. Am ersten Band zogen wir das zweite und letzte Mal Verpflegung vom Wandfuß herauf, diesmal eine kräftige Suppe. Die Versorgungsschnur war zu Ende; wir knüpften sie an das 200m-Hilfsseil (9 mm). Eine Plage wohl, doch Sicherheit über alles!
Schneebedeckte Felsen führten nach links in den Grund der großen Rinne, in der es sofort wieder mit VI losging. Ein geschweifter Riss nach rechts hinaus, zuerst an glatten Platten, dann senkrecht, genau das, auf was ich mich freute. Mein Kletterherz schlug höher. Nun trafen wir zum zweiten Male Eis an. Es war jedoch elegant zu überspreizen. Nach einigen Seillängen waren wir auf dem Pfeilerkopf angelangt. Eine gute Biwakmöglichkeit.
2. Biwak – geräumig am Pfeilerkopf
Zum Weiterklettern war es schon zu spät, aber zumindest den folgenden Quergang (V+) nach links wollten wir noch vorbereiten. Es gelang. Endlich wieder ein gemeinsames Biwak. Hier hatten wir sogar Schnee zum Kochen. Nachdem es tagsüber teilweise etwas geschneit hatte und das Wetter als sehr mäßig zu bezeichnen war, gab es wieder eine klare Nacht. Die tiefste Temperaturmessung ergab 4° C, also für Winterbegriffe ausgesprochen mild.
Durch das unerwartet langwierige Kochen (wir benötigten für 1 Liter Wasser 1½ Std.), begann unser dritter Klettertag erst um 8 Uhr. Otti, Spezialist beim „Anklettern“ nach Biwaks, bezwang die Querung. Ich stieg anschließend in den „versteckten Riss“, der noch ausgezeichnet trocken und schön zu durchklettem war. Das Wetter: wieder schön. Nachdem Otti die nächste Seillänge (V+) trotz erstmaliger Vereisung in eleganter Spreizarbeit hinter sich gebracht hatte, verabschiedeten wir uns per Funk von den Kameraden, die nun zuversichtlich mit all dem schweren Gepäck zum Gipfel aufzusteigen begannen. Für uns eine Art Wendepunkt.
Es war die letzte Funkverbindung, und genau ab hier begann die erbarmungslose, unerwartet starke Vereisung. Die letzte äußerst schwierige Seillänge (VI+) dieser Führe verlangte ganzen Einsatz, um sie zu überwinden. An einem schlechten Stand musste ich die Rucksäcke nachziehen. Gleich der erste blieb in der Verschneidung am Überhang stecken. Otti entschloss sich, mit dem zweiten Rucksack nachzuklettern und den anderen aus der Verkeilung zu befreien. Was das für eine Anstrengung war, konnte ich erst ermessen, als er mit beiden Rucksäcken völlig verausgabt bei mir ankam. Laut Beschreibung waren die Schwierigkeiten nun nicht mehr über dem vierten Grad.
Aber es kam anders: Für uns begannen hier die eigentlichen Schwierigkeiten. Von dünnern Eis bis zu Schneelawinen lernten wir alles kennen. Ein Stück im Kamin konnte ich nur mit Eisschrauben und Trittleitern an einem Wulst überwinden, anschließend machte ich eine Variante links außen im glatten Fels bis hinauf, kurz unter das große Terrassenband. Für heute war das Schwierigste überwunden.
Wir sahen bis zu acht Meter hohe Schneebalkone auf der Terrasse und hatten Sorge um einen trockenen Biwakplatz, da unsere Kleider von den Wassereiskaminen stark durchnässt waren. In heikler Eisarbeit kamen wir auf den Schneebalkon und nach 40 Metern Rechtsquerung und immer mehr schwindender Hoffnung auf einen guten Platz, fand ich tatsächlich eine trockene Höhle.
3. Biwak am großen Band in einer trockenen Höhle
Wie sich später herausstellte, war es die einzige Höhle, die wie durch ein Wunder trocken blieb und nicht zugeschüttet war. Nun mussten wir noch das 400 Meter lange Seil einziehen, da wir es im oberen Wandteil im Rucksack hinauftragen wollten. Die Jürmarsteigbügel als Griffe verwendend, zogen wir noch etwa 15 Meter Seil ein, dann rührte es sich nicht mehr. Mehrere Versuche machten uns klar, dass ein Knoten irgendwo sich verklemmt hatte und es uns unmöglich machte, das Seil einzuziehen. Abwurf? Das schien uns zu unsicher. Wir fixierten das eine Ende am Band und ließen es zurück.
Die Verblüffung am Morgen des vierten Tages (Mittwoch, 11.3.) war umso größer, als Otti zur Höhle hinaus kroch und die erste Seillänge Rechtsquerung anging. Es war alles fest angeschneit. Der plattige Fels unter uns sah schaurig aus. Das große Band war eine Eisfeldtraversierung mit Stufenschlagen und Eisschrauben. Die zweite Länge dieser Traverse führte mich zum Beginn der „schrägen Rinne“, die zur Gipfelschlucht leitet. Die Rinne bestand aus beinhartem Eis. Langwierige, mühselige Stufenarbeit, die jetzt überhaupt bis zum Gipfel vorwiegend anhalten sollte. Nach der Rinne kletterten wir über eine verschneite Kante, bis wir in heikler Fels und Eisarbeit die Gipfelschlucht erreichten.
Immer wieder spürte ich beim Klettern ohne Handschuhe die Wirkung von Ronicol, das wir regelmäßig zweimal am Tag einnahmen. Wenn die Finger auch gefühllos wurden, nach einigen Minuten haben wir sie doch immer wieder einsatzfähig machen können. Genau am Beginn der schattigen, teilweise senkrechten Gipfelschlucht, die mir immer schon Sorgen gemacht hatte, kamen auch die größten Schwierigkeiten. Eine Eisrinne kletterte ich mit allen Finessen der Technik hinauf, bis sie überhängend wurde und das Eis so spröde und dünn war, dass keine Schraube mehr hielt. Nach langem Probieren gelang es mir dann, rechts im Fels einen Haken zu schlagen, der die Überbrückung brachte. Gleich darüber ging´s wieder im Eis mit Trittleitern und Schrauben weiter. Hier hatten wir auch die erste Rufverbindung mit den Kameraden am Gipfel. Aber im orkanartigen Sturm hörten wir die Rufe nur selten (auch keine Sprechfunkverbindung gab es). Hätten die Kameraden am Gipfel eine Möglichkeit gehabt, uns ein Seil herunterzuwerfen, wären wir sicher am fixen Seil hinaufgestiegen und hätten auf eine Vollendung mit eigener Kraft verzichtet, was uns bei dem katastrophalen Wetter niemand hätte verdenken können. Es wurde auch tatsächlich ein Seil heruntergelassen, aber wir sahen es niemals, es war viel zu weit rechts.
4. Biwak – stehend in der Eisrinne
Da es schon dämmerig wurde, blieb uns nichts anderes übrig, als schleunigst eine nochmalige Biwakmöglichkeit zu suchen. Ich war noch beim Klettern, als mich die Dunkelheit überraschte.
So musste ich, an einer Eisschraube gesichert, die Stirnlampe auspacken: Nach fünf bis sechs Metern kam ich wie durch ein Wunder auf ein kleines Felsköpfl. Kein Haken war unterzubringen. Ein Bohrhaken, Stehbiwak. Otti, mitten in der Rinne im Eis, ebenfalls die ganze Nacht stehend. Pausenlos trieb der Sturm den frisch gefallenen Schnee zusammen. Kleine Lawinen sausten durch die Rinne über uns hinweg. Jede Stunde etwa meldete sich Otti mit Gesang, dass er noch gut am Posten war. Das bewies wieder die außergewöhnliche Härte von Otti. Er ist immer gleich gut aufgelegt. Die härteste Nacht, die wir bisher am Berg verbrachten.
Fünfter Tag: Um 5.30 Uhr früh, beim ersten Licht, krochen wir aus den Biwaksäcken, schüttelten den Schnee ab und behielten zum Klettern wegen der großen Kälte die Daunenjacken an. Steif wie ein Eiszapfen, kam Otti die Rinne herauf und machte 30 Meter über mir Stand. Hier schien die Welt mit Brettern vernagelt zu sein. Ein völlig vereister Riss zog etwa 30 Meter senkrecht mit einem abschließenden Überhang bis zur Fortsetzung der Rinne hinauf. Ich machte mich gleich an die Arbeit. Anfangs kam ich in der Rinne mit Fiffi und Eisschrauben voran, doch als die Sache senkrecht wurde, kam das Problem. Keine Schraube biss mehr im spröden, morschen Eis, der Fels links und rechts war richtig verglast.
Trotzdem kam ich noch in heikelster Freikletterei etwa vier Meter bis zum Überhang hinauf. Hier allerdings war alles gegen mich. Ich erkannte, dass ich so schnell wie möglich zurück musste, um einen Sturz zu vermeiden. Wieder dachte ich sehnsüchtig an die Möglichkeit eines Seiles vom Gipfel herunter, ohne zu ahnen, was sich da oben alles tat! Wir wollten aber nicht auf Hilfe warten. Ich ging den einzigen Ausweg an. Bei Otti angelangt, querte ich nach rechts bis zu einem senkrechten Aufschwung. Verschneiter und vereister Fels, ein Problem.
Aber es ging um alles. Bei etwa -17 Grad C mit bloßen Fingern, nach 3 Stunden Kampf in der Eisrinne, hieß es nun „auf Zack“ die brüchige Steilstufe (VI) zu überwinden. Ein Haken am Beginn sicherte mich einigermaßen. Die Finger griffen immer wieder in kleine Vertiefungen, die nicht nur voll Schnee waren, sondern richtige Schneefahnen hervorstehen ließen. Es wurde immer abdrängender, die Finger gefühlloser und obendrein beim letzten Aufschwung der Fels ringsum noch brüchig. Für uns die eigentliche Schlüsselstelle. Letzte Reserven, ein kleines Köpfl – gerettet.
Der schon fast steife Otti gratulierte mir durch den Sturm herauf – Freude kam endlich in mir hoch. Ein letztes Mal zog ich mühevoll die Rucksäcke einzeln zu mir herauf. Dann kletterte Otti nach. Noch 50 Meter war die Eisrinne steil. Schrauben und Stufenarbeit, bis sie sich endgültig bis zum Gipfel hin verflachte.
Bereits am Ausstieg, kam uns Robert am Stahlseil entgegen
Ich hatte gerade in einer Stufe Stand gemacht, da hörte ich links unter mir auf einmal mit „Hallo“, Robert Troier heraufrufen, der am Stahlseil zur Erkundung abgeseilt und nun wieder aufgewunden wurde. Otti war gerade nachgekommen und stapfte schon in der flacheren Schneerinne dem Grat zu, als Robert bei ihm ankam. Händeschütteln, stichwortartiges Erzählen der vielen Erlebnisse.
Die erfolgreichen „Gipfelstürmer“ Otti Wiedmann (links) und Walter Spitzenstätter
Von den Kameraden erfuhren wir, was sich außerhalb der Wand abgespielt hatte, ein Unternehmen für sich, ein Beweis wunderbarer Kameradschaft, Krönung des ganzen Abenteuers. Dann gab es nur noch Freude auf Freude.
Die herrliche Skiabfahrt, den reizenden Empfang von Mario Jori im Rifugio Marmolada, glücklicher Ausklang, einen Tag später Zufriedenheit im beruflichen Alltag.
Die Gipfelhütte auf der Marmolada di Rocca zur Zeit der Durchsteigung